Thomas Larcher: Arnold Schönberg, Franz Schubert: Klavierstücke

Thomas Larcher (Klavier)
© ECM 1999

Werke
Arnold Schönberg: Klavierstücke op. 11
Arnold Schönberg: Sechs kleine Klavierstücke op. 19
Franz Schubert: Klavierstücke D 946
Franz Schubert: Allegretto c-moll D 915

Die Konsistenz der Finsternis in den Klavierstücken Schuberts und Schönbergs
Gert Jonke

Die hier gespielten Stücke sind Nachtstücke. Das behaupte ich einfach. Keine solchen Nachtstücke, wie sie von irgendwelchen Adeligen zur Untermalung ihrer Abendunterhaltung beauftragt waren oder, wie im Falle Goldbergs, der jene berühmten Variationen zur Ausgestaltung der Schlaflosigkeit seines Dienstherrn bei Johann Sebastian Bach wie einen maßgeschneiderten akustischen Pyjama bestellte.
Die vorliegenden Stücke sind eher musikalische Zustandsbeschreibungen und Erzählungen über die damalige Art von Finsternis in jenen Nächten und wie man diese uns heutigen Menschen völlig unbekannte andersartige Dunkelheit einigermaßen praktisch handhabte. Denn eine solche Finsternis gibt es heute nicht mehr. zumindest nicht in den von uns bewohnten gebieten des Erdballs. Diese Art von Finsternis muß tatsächlich irgendwie ausgestorben sein und dürfte somit auf die List der für immer verlorengegangenen Pflanzen und Tiere und somit zu jenen unbekannt bleibenden Gattungen jener Arten von Lebewesen gehören, die zumindest in belebtem Zustand nicht mehr vorkommen. und das nicht nur wegen und seit der Einführung der elektrischen Straßenbeleuchtung.
Die Finsternis in den damaligen Zeiten war nämlich in ihrer Konsistenz um so viel dichter und dadurch intensiver als heute, da wir es mit einer völlig verschlampten Nachtdunkelheitsnotlösung zu tun haben, die man im besten Fall als einen von flächendeckenden Lichtfäulnisverschimmelungen durchlöcherten Dämmerzustand bezeichnen können.
Sowohl Schubert als auch Schönberg berichten derart übereinstimmend mit ihren jeweiligen Klangsprachen über diese „alte“ Finsternis, was nämlich die vorliegende Programmzettelreihenfolge legitimiert, so daß unser Pianist gar keine langen Überredungskünste einsetzen mußte, um die Stücke von diesem „sanften Konkubinat“ zu überzeugten, uns Hörern aber den zusätzlichen Reiz erlaubt, ganz genau beobachten zu können, auf welche Art diese so verschiedenen Epochen zugehörenden Stücke dieser beiden Komponisten sich eben einfach wirklich „mögen“ …

Schubert erzählt und etwa folgendes: Die meisten Leute damals seien der Ansicht gewesen, daß in der Nacht die Wegstrecken zwischen den einzelnen Häusern und Dörfern deshalb viel länger seien als bei Tag, weil schon eine jede Abenddämmerung von den ihr untergebenen Schatten verlange, länger und länger zu werden, um sich der unpünktlich verspäteten Sonne entgegenzustrecken und sie durch die Horizontgrenze tagauswärts zu schieben; worauf die ohnedies beginnende Nacht mit den Schattenströmungen ihrer endgültig vollzogenen Dunkelheit alle Häuser, Dörfer und auch die kleineren Bezirksstädte ganz weit auseinanderschiebt, manchmal gewalttätig auseinanderwirft, was dann weiters zur Folge gehabt habe, daß die an diesen Häusern, Dörfern und Bezirksstädten angebundenen Straßen und Wege sich ihrerseits zu verlängern gezwungen gesehen hätten. Manchmal sei eine Straße oder ein Weg zwischen zwei Dörfern dadurch so weit auseinandergedehnt worden, daß der Weg oder die Straße wie ein überdehntes Gummiband in der Mitte zerriß.
Wenn einem als Nachtwanderer dergleichen unterlief, daß völlig überraschend der jeweilige Weg oder die Straße unter den gehenden Schritten wegbröckelte, blieb einem nichts anderes übrig, als das folgende Morgengrauen abzuwarten, um das verlorengegangene Straßenanschlußstück mit viel Glück wiederzufinden, um einigermaßen heil nach Hause zu kommen.

Schubert selbst hingegen neigte eher zu der Ansicht, es sei die Konsistenz der Finsternis, welche die größeren Entfernungen in der Nacht zum Unterschied zu den kürzeren Tagen verursache.
Es sei die Dichte der damaligen Finsternis gewesen, die den Reisenden werder durch- noch weiterließ, weshalb der Wanderer des Nachts häufig gehend auf der Straße getreten sei, ohne es selbst zu bemerken, und die Räder der Postkutschen häufig im Stand durchgedreht hätten, ohne daß der Postillion davon Kenntnis genommen hätte … und das hätte bewirkt, daß alle Wege in der Nacht wesentlich von der Dunkelheit verlängert erschienen, mindestens doppelt so lang und ebenso weit als bei gleichen Strecken tagsüber oder noch länger, je nach Intensität der jeweils vorhandenen angereicherten Finsternis, in ihrer Dichte jeweils unterschiedlich.

Arnold Schönberg beschrieb in seiner Musik diese art von Finsterniskonsistenz hingegen etwa so:
Ein Mann geht bei beginnender Nacht aus seinem Haus, um einen Freund oder eine Freundin in einem nicht sehr weit entfernten anderen Haus zu besuchen, und vermutet keine besonderen Schwierigkeiten, die ihm beim Durchdringen der Finsternis erwachsen würden, denn er hat diesen Weg schon sehr oft in vielen Nächten zuvor erfolgreich hin und auch wieder zurück hinter sich gebracht.
Der Mann geht und geht, und lange fällt ihm nichts auf, denn natürlich weiß er, dass ich dern Nacht wegen der sehr intensiven Finsternis die Wegstrecken mindestens doppelt so lang sind wie bei Tag.
Deshalb geht er weiter und geht, und es fällt ihm immer noch nichts auf bis zum Morgengrauen, das ihm plötzlich überraschend und viel zu früh wie ein Überfall aus heiterem Himmel vorkommt.
Mit dem zunehmenden Klarerwerden der Konturen in der heller werdenden Landschaft sieht der nach wie vor gehende Mann, daß er noch sehr weit vom Haus der Freundin oder des Freundes entfernt ist. Auf merkwürdige Weise viel zu weit noch, denkt er sich, und irgendwie schaut er sich unwillkürlich um.
De sieht er: Er steht mit seinem Rücken gar nicht weit entfernt von seiner eigenen Haustür, ja, hinter ihm steht sein eigenes Haus, aus dessen Tor er doch erst gestern abend, ein paar Stunden zuvor, getreten war, um zu jenem anderen haus seiner Freundin oder seines Freundes, das doch gar nicht so weit weg von seinem eigenen Haus vor ihm liegt und welches – das in der vergangenen Nacht nicht erreichte Haus der Freundin oder des Freundes – jetzt langsam aus den Restfetzen des abziehenden Morgengrauens heraus genau gezielt ihm gesichtseinwärts ganz nahe herbei entgegenzuschweben anhebt, um sich dann bald an einem ort ganz in der Nähe niederzulassen, so daß jenes Haus, das er abends zuvor erreichen wollte, aber nicht erreichen konnte, an diesem Morgen ihm ganz nah vor Augen lag.

zitiert nach: Booklet zur CD Thomas Larcher: Arnold Schönberg, Franz Schubert: Klavierstücke