Thomas Meyer: Musikalische Gedankenräume

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Musik & Theater 11/2005
Thomas Larcher – Pianist, Komponist und Festivalgründer

Als Komponist bewegt sich Thomas Larcher zuweilen neben den engen Spuren der Neuen Musik, durchschreitet stilistisch große Weiten und gibt sich inspiriert vom Leben selbst. Mit „Hier, heute“ und „Smart Dust“ werden im November zwei neue Stücke des vielseitigen und unorthodoxen Künstlers im Luzern uraufgeführt.

„Die kompositorischen Sichtweisen, die verwendeten Stilmittel wechseln fast von Werk zu Werk“, sagte er 2001 im Gespräch mit dem Musikjournalisten Reinhard Schulz. Und dieses Wechselspiel ist auch für die jüngere Arbeit Thomas Larchers wichtig geblieben. Es geht ihm nicht darum, einen stilistischen Ansatz und damit ein wie auch immer fixiertes schöpferisches Ich auszuwalzen, sondern den Erfordernissen gemäß zu reagieren, aus der Zeit heraus. Und in diesem Wechselspiel bewegt sich der 1963 in Innsbruck geborene Thomas Larcher auch in seinen vielfältigen Tätigkeiten: als Komponist, Pianist, Festivalleiter, Pädagoge, als vielseitiger Musiker in einer größeren, nicht nur musikalischen Umgebung.

Ursprünglich wollte er in seinem neuen Klavierstück, das er am 26. November beim Piano Festival Luzern uraufführt, eine Verbindung zu Schubert herstellen, denn dessen letzte Klavierstücke sowie eine neue Komposition der Britin Rebecca Saunders stehen auf dem Programm, aber dann entschied er sich anders: Statt für Schubert, den er auf einer CD bereits mit Schönberg kombiniert hatte, begann er sich für einen intelligenten Staub zu interessieren. Bei „Smart Dust“ (so heißt das neue Stück) handelt es sich um kleinste, mikroelektromechanische Sensoren, die von Licht bis hin zu Vibrationen alle möglichen Informationen aufnehmen, verarbeiten und untereinander austauschen können – was sich wohl auch kommerziell, vor allem aber in Spionage- und Militärbereich prächtig nutzen lässt. Larchers Stück ist freilich kein auskomponierter Spionageroman. In den Klängen geht es ihm um die befremdliche Klangwelt eines zunächst präparierten und allmählich „normaleren“ Klaviers, um Energie- und Informationsflüsse und darum, was derlei vielleicht im Kopf des Hörenden auslösen könnte.

Nicht nur vom Thema her ist das ungewöhnlich; auch stilistisch benimmt sich Larcher „daneben“, d.h. er folgt nicht den zuweilen etwas engen Spuren der Neuen Musik. „Eine riesige stilistische Weite wird auf ganz kurzem Raum durchmessen, so, als würde ein ,Smart-Dust-Sender‘ in Bagdad am Turban eines Muezzins landen, der nächste aber 100 Meter weiter in einer Diskothek. Oder besser: ein Sender in einer Lachenmann-Partitur, der nächste im Bart von Arvo Pärt.“ Diese Breite ist bezeichnend, auch für den Pianisten Larcher. Einerseits hat er mit Heinz Holliger gearbeitet und mit dem Geiger Thomas Zehetmair die „Lieder ohne Worte“ aufgenommen, andererseits spielt er Mozart-Klavierkonzerte, ausgewählte Werke. Den „großen Kisten“, den Gesamteinspielungen bin ich in seiner Umgebung noch nicht begegnet. So ist auch jede CD ein Kunstwerk: Wichtiger als Serien ist die Auseinandersetzung mit dem Einzelnen.

„Klangspuren“ in Schwaz

Und er lässt sich von seiner Zeit herausfordern. Diese unmittelbare Herausforderung war gewiss zu Beginn die Neue Musik, und die wollte er fördern, als er 1994 das Festival „Klangspuren Schwaz“ im Tirolischen gründete. Aber zugleich zeigte sich, dass es mit der Aufführung nicht getan ist, dass es Zusammenhänge gibt, in denen Musik steht, nicht nur innerhalb der Künste, sondern darüber hinaus. So wurde hier die Musik nicht nur in unserer Zeit, sondern auch in der Region Tirol verankert. Die ungemein reichhaltigen „Klangspuren“ gehören damit längst zu den maßgeblichen Festivals Neuer Musik. Bezeichnenderweise war Larcher als Pianist und „composer-in-residence“ später bei anderen, ebenfalls außergewöhnlichen Festivals engagiert, bei „Young Artists in Concert“ in Davos, bei den „Spannungen“ in Heimbach, beim Kammermusikfest im norwegischen Risør oder demnächst beim „Mondseefestival“ von Heinrich Schiff.

Früher gab es den Pianisten und Festivalleiter Larcher und im Nebenberuf den Komponisten. Allmählich aber tritt der stärker in den Vordergrund. Und gerade dieses „Nebenbei“ erweist sich dabei als enorm erfrischend, die unorthodoxe Seite in seiner Musik: Diese Musik fürchtet sich nicht davor, dass ihr jemand vorwerfen könnte, sie sei nicht innovativ oder klinge nach Bekanntem. Sie folgt ihren eigenen Linien. Sie interessiert sich darüber hinaus für Themen, die die meisten Komponisten links liegen lassen. Am Ausgangspunkt des Solocellostücks „Vier Seiten“ standen etwa die Fernsehbilder vom tödlichen Unfall des brasilianischen Autorennfahrers Ayrton Senna; „My Illness is the Medicine I Need“ verwendet Texte von Patienten eine Nervenheilanstalt, die Larcher im Magazin „Colors“ fand. In seinem Cellokonzert „Hier, heute“, das Thomas Demenga und Jonathan Nott am 9. November zum 200-jährigen Bestehen des Luzerner Sinfonieorchesters uraufführen, bezieht sich Larcher auf ein Bild und einen Text des amerikanischen Kriegsfotografen Jean-Marc Bouju: Sein Bild eines Irakers und seines kleinen Sohns wurde 2004 als „Pressefoto des Jahres“ ausgezeichnet. „Die Soldaten“, so erzählt Bouju, „brachten die Gefangenen von einem Lastwagen an eine mit Stacheldraht umzäunte Stelle, legten ihnen befehlsgemäß Handschellen an und stülpten ihnen Säcke über den Kopf, auch dem Vater des Jungen. Das Kind war entsetzt und fing an zu schreien. Einer der amerikanischen Soldaten schnitt dem Mann die Handschellen durch, damit er seinen Sohn beruhigen konnte. Ich konnte hören, wie der Mann, der selbst verängstigt war, seinem Sohn etwas in Arabisch zuflüsterte.“

Die andere Stimme in der Zeit

Diese Szene bildete den „Gedankenraum“, dem Larcher bei der Komposition weder entkommen konnte noch wollte. Das Stück ist keine Vertonung, keine direkte Programmmusik; sie entstand vielmehr vor diesem Hintergrund. Und aus diesem Grund hat sich Larcher entschlossen, diesen Text gegen Ende von CD zuzuspielen. „Für mich ist es ein Text, der in seinen wenigen Sätzen enorm viel umfasst: eigentlich unsere gesamte heutige Zeit, gesehen durch das Auge und durch die Kamera eines sensiblen und mitfühlenden Menschen. Er bezieht Stellung und zeigt die (wenn auch minimalen Möglichkeiten) des Einzelnen in einer Kriegsmaschinerie. Gleichzeitig verschließt er sich nicht dem absolut Katastrophischen dieses Kriegs und unserer Zeit.“ Wie setzt man das in Musik um? „Mir ist gesagt worden, das Stück sei ein vergebliches Anrennen gegen eine unauflösbare Situation. Das wird wohl stimmen, und wahrscheinlich stimmt es für die meisten meiner Kompositionen – und damit auch für mein Leben und für die meisten anderen Leben. Gegenüberstellungen von resignativen, erschöpften Zuständen und ,Anrennbewegungen‘ bilden die Struktur. Es gibt wenige Verbindungen, die einen Aufprall auflösen könnten.“

Der uralte, in der Konzertform thematisierte Konflikt von Individuum und Gesellschaft wird hier neu formuliert: Das Cello verliert im Lauf des Stücks seine eigene Stimme und wird „sogar zum zynischen Motor des Katastrophischen“. Das formt Larcher in rhythmischen Mustern und auf subkutanen tonalen Fundamenten. Und damit will er nun nicht eine wie auch immer geartete Neue Musik schaffen, sondern das tun, was Kunst immer tat: Fragen so formulieren, dass sie Gefühle und Gedanken auslösen. Keine Festtagsmusik ist hier also zum 200. Geburtstag des Luzerner Sinfonieorchesters zu erwarten, aber schließlich wurde die Theater- und Musikliebhabergesellschaft in Luzern 1806 ja auch in eine bewegte, die napoleonische, Zeit hinein gegründet. Musik ist die andere Stimme in der Zeit.

zitiert nach: Musik und Theater, November 2005