Die Reise ins Ich. Thomas Larcher im Gespräch mit Gregor Willmes

Fono Forum 11/2006

Beim Klavier-Festival Ruhr kam in diesem Sommer sein erstes Klavierkonzert, „Böse Zellen“, zu Uraufführung. Das Label ECM veröffentlicht nun eine zweite, allein den Werken von Thomas Larcher gewidmete CD. Gregor Willmes sprach mit dem höchst erfolgreichen Komponisten und Pianisten.

Gregor Willmes: Herr Larcher, bei ECM erscheint gerade die zweite CD, die Ihren Werken gewidmet ist. Wie ist es zur Zusammenarbeit mit dem renommierten Label gekommen?

Thomas Larcher: Es hat immer wieder Berührungspunkte mit ECM gegeben. Einer war der Tiroler Komponist Werner Pirchner, der ganz früh in der Reihe „New Series“ ein Doppelalbum veröffentlicht und früher auch als Jazz-Vibraphonist für Manfred Eicher aufgenommen hatte. Ich hatte zu Pirchner eine sehr enge Verbindung. Er hat mir musikalisch sehr viel eröffnet. Intensiver wurde der Kontakt, als ich mit Thomas Zehetmair für ECM die „Lieder ohne Worte“ von Heinz Holliger aufgenommen habe. Ich bin sehr gern im Studio und entfalte meine Qualitäten auch am besten in solchen Situationen. Es entspricht meinem sturen Charakter, Dinge einfach nicht loszulassen, selbst noch den Schnitt zu überwachen, zuvor bereits die Alben dramaturgisch zu gestalten. Und in diesen Anspruch habe ich mich doch sehr mit Manfred Eicher getroffen.

Gregor Willmes: Auf der neuen CD („IXXU“) finden sich zwei Streichquartette, einmal „Cold Farmer“ von 1990, dann das 2004 vollendete „IXXU“. Warum präsentieren Sie die Streichquartette entgegen ihrer chronologischen Reihenfolge? Erst recht, wo sich „IXXU“ auf „Cold Farmer“ bezieht und nicht umgekehrt.

Thomas Larcher: Das war eine ganz unbewusste Entscheidung. Ich hoffe, dass die CD durch die Klammer der Streichquartette eine stimmige Dramaturgie bekommt, und glaube, dass man „Cold Farmer“ anders wahrnimmt, wenn man zuvor „IXXU“ gehört hat. Für mich ist „IXXU“ das viel geschlossenere Stück, das Gedanken oder experimentelle Spielweisen, die ich in „Cold Farmer“ ausprobiert habe, mit einer gewissen Konsequenz und Härte ausarbeitet.

Gregor Willmes: Im Beiheft zur CD schreiben Sie zu „IXXU“, dass das Streichquartett auch eine Auseinandersetzung sei mit der „ gewachsenen Weise zu komponieren“. Wie bedrohlich ist es für einen Komponisten, wenn er merkt, dass er quasi einen „ Personalstil“ ausgebildet hat?

Thomas Larcher: Das finde ich schon erschreckend. Denn dieser Stil ist schnell auch der Käfig, in dem man sich befindet.

Gregor Willmes: Sie beschreiben ganz genau Elemente, die in ihren Kompositionen häufig anzutreffen sind: das „Nicht-Wegkommen von einzelnen (Grund-)Tönen …, in einer energiegeladenen, ausbrechen wollenden rhythmischen Bewegung, welche die Geschwindigkeit bis zur Besessenheit steigert, sowie in Momenten einer erschöpften, trügerischen Ruhe“. Wenn man den eigenen Stil zu genau erkannt hat – wie kommt man aus dem Käfig wieder heraus?

Thomas Larcher: Genau diese Frage ist das Spannende am Komponieren. Und es ist manchmal eine wirkliche Freude, wenn man etwas Neues, einen neuen Weg findet – nicht erfindet.

Gregor Willmes: Mit „My Illness is the Medicine I Need“ findet sich auf der CD ihr erstes Gesangsstück. Wie ist es dazu gekommen?

Thomas Larcher: Ich hatte 2002 den Auftrag erhalten, kurzfristig ein Werk für Lars Vogts Kammermusik-Festival „Spannungen“ zu schreiben. Und ich bin durch Zufall auf ein Magazin gestoßen, in dem Interviews mit Patienten aus psychiatrischen Anstalten abgedruckt waren. Aus diesen habe ich Exzerpte genommen, sehr markante Sätze wie „Meine Krankheit ist die Medizin, die ich brauche“ oder „Essen und schlafen. Essen und schlafen. Die Monotonie hier bringt dich um.“ Ich denke, dass jeder von uns solche Texte schon einmal gedacht hat. Für mich ist außerdem wichtig, dass es sich bei diesen Texten nicht um Lyrik handelt. Denn es hat meinen Zugang als Komponist zu Texten immer erschwert, dass die Lyrik eigene Rhythmen, eine eigene Diktion, eine eigene Musikalität in sich besitzt.

Gregor Willmes: Was interessiert Sie inhaltlich an diesen Texten?

Thomas Larcher: Die Reise ins eigene Ich, die Erforschung, auch Konfrontation mit den eigenen Abgründen. Für mich ist Komponieren immer auch ein Selbstsuchprozess.

Gregor Willmes: Wie sind Sie zu der Besetzung gekommen? Sie hätten auch Klavierlieder schreiben können.

Thomas Larcher: Ein Problem bestand für mich darin, die Texte dieser kranken Menschen nicht dazu zu benutzen, um ein Kunstwerk zu „beschmücken“. Unter dem Deckmantel der Engagiertheit wird vieles gemacht, das ist ein Problem der ganzen Medienwelt. Deshalb bin ich mit den Texten eher distanziert umgegangen und lasse sie teilweise sehr neutral vortragen. Auf der anderen Seite habe ich auch direkt gegen die Texte komponiert. Deshalb war es mir wichtig, der stimmlichen Ebene ein großes instrumentales Gewicht entgegenzustellen. Die Begleitung soll nicht nur illustrieren oder kolorieren, wozu man bei einem Klavierlied schnell verführt wäre.

Gregor Willmes: Besonders anrührend finde ich die Komposition der Sätze „Ich liebe es, wenn mich Leute nach der Zeit fragen. Es ist immer ein Gespräch“. Es ist quasi ein Strophenlied mit immer demselben Text, aber sich entwickelnder Begleitung, das in seiner Monotonie auch die Einsamkeit der sich wiederholenden Personen aufzeigt. Wiederholung schafft in der Musik Form, ist hier inhaltlich aber auch Ausdruck einer Obsession. Welche Seite der Wiederholung ist ihnen wichtiger?

Thomas Larcher: Die Wiederholung ist ein Urmuster. Und wenn ich das so sagen darf: auch bei mir. Weil ich weniger mit Schönberg und Webern als mit Bartók groß geworden bin. Diese Wiederholungen bestimmen automatisch auch die rhythmische Struktur des Stückes. Und damit sind wir bei der Form. Aber in diesem Fall ist natürlich die Obsession ebenfalls ein ganz wichtiger Faktor. Das Stück ist schließlich formal nicht so stringent gebaut, dass man sagen könnte, es sei alles das Form untergeordnet.

Gregor Willmes: Mit „Heute“ ist von Salome Kammer und dem Düsseldorfer Symphonikern inzwischen auch ihre erste Komposition für großes Orchester und Stimme uraufgeführt worden. Erneut geht es sehr dramatisch zur Sache, auch motorisch. Erneut gibt es Texte, die sich um Tod, Einsamkeit, Kommunikationsprobleme drehen. Sind Sie so ein düsterer Mensch?

Thomas Larcher: Nein, als Mensch bin ich gar nicht so düster. Aber ich habe mit Sicherheit auch solche Seiten und möchte dies erforschen. In diesem Fall war es so, dass ich etwas von Alois Hotschnig vertonen wollte, mit dem ich befreundet bin. Er hat mir dann 160 Seiten mit Sätzen geschickt, also seinen ganzen Zettelkasten. Und ich habe den 100.000 Mal hin- und hergewälzt und weggestrichen, bis einfach die Sätze für „Heute“ übrig blieben. Wenn ich nun seine Bücher lese, merke ich ganz oft: Das ist jetzt wieder ein Satz aus seinem Zettelkasten. Und wie er mit diesen Versatzstücken eine größere Struktur baut, das hat mich sehr an meine Art zu komponieren erinnert.

Gregor Willmes: Was steht auf ihren Zettelchen?

Thomas Larcher: Noten. Ein paar Klänge. Das finden sich teilweise auch Dinge, bei denen ich mir nach ein paar Wochen denke: Was war denn das noch einmal? Das ist teilweise auch schlampig notiert. Oft sind es aber Strohhalme. Denn das Komponieren ist immer auch ein Graben in meiner musikalischen Vergangenheit. Ich stelle immer wieder fest, dass ich nur an meine eigenen Werke anknüpfen kann. Ich kann immer nur verarbeiten, was in mir ist. Man lässt Werke auch reifen oder werden. Und in den glücklichsten Momenten, selten genug, gibt es Dinge, die stimmig sind und – zumindest in dem Moment – nicht mehr hinterfragt werden müssen.

Gregor Willmes: Wie sind Sie zur Musik und speziell zur zeitgenössischen Musik gekommen?

Thomas Larcher: Zur Musik übers Elternhaus. Meine Mutter wäre gern Musikerin geworden. Ihre drei Kinder haben Instrumente gelernt. Und ich habe immer Noten geschrieben, durchaus auch autonom. Ich habe mir beispielsweise als Sechsjähriger gedacht, ich müsse nun etwas für Orchester machen und habe dann unten angefangen mit einem C, habe gedacht, da passt noch ein G dazu und dann noch ein E. Das war am Anfang ganz naiv.

Gregor Willmes: Beim Klavier-Festival Ruhr ist im Sommer ihr erstes Klavierkonzert, „Böse Zellen“, uraufgeführt worden. Wie kam es zu dem Titel?

Thomas Larcher: Es gibt einen Film der österreichischen Regisseurin Barbara Albert, der so heißt. Er spielt in den Randbezirken von Wien, wo einige junge Leute relativ perspektivlos ihren Alltag durchfristen. Es gibt gar keine stringente Handlung, sondern mehrere Handlungsebenen, die teilweise auch nebeneinander herlaufen. Das spiegelt sich auch in der Struktur des Konzerts wider.

Gregor Willmes: Das Konzert war eine Auftragsarbeit für das Klavier-Festival Ruhr. War die Besetzung vorgegeben?

Thomas Larcher: Mehr oder weniger. Ich habe mich genau an Mozarts Es-Dur-Konzert KV 482 gehalten. Mir war es wichtig, nicht einen riesigen Apparat zu haben, sondern mit Individuen im Orchester zu arbeiten. Ich habe also versucht, das Münchener Kammerorchester als erweiterte Kammermusikgruppe zu sehen und die einzelnen Spieler auch dementsprechend zu fordern. Deshalb sind die Streicher teilweise komplett geteilt, sodass jeder Musiker quasi eine eigene Stimme besitzt.

Gregor Willmes: Das Klavier wird gleich zu Beginn sehr „unklavieristisch“ behandelt. Sie schleichen sich pianissimo ins Stück mit einer Stahlkugel auf den Saiten. Das Klavier ist präpariert. Erst am Ende sollen alle Gummidämpfer herausgezogen werden. Findet da das Klavier wieder zu seiner eigenen, „historisch“ geprägten Klanglichkeit – bis zum tonalen Ende?

Thomas Larcher: Ich denke, dass der natürliche Klavierklang in einem ganz anderen Licht erscheinen kann, wenn er vorher verfremdet war. Ich habe mir mittlerweile aber auch schon die Frage gestellt, ob der letzte Teil – ich sage jetzt mal der Rachmaninow-Teil – nicht etwas zu kurz kommt, ob er nicht ein bisschen wie ein Wurmfortsatz wirkt, und ob ich an dieser Stelle nicht noch ein bisschen weiterarbeiten und diesen Teil ausbauen soll.

Gregor Willmes: Am 23. November 2006 bringen Sie in Frankfurt mit dem HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi ein Konzert von Erkki-Sven Tüür zur Uraufführung. Wie verhält sich der Komponist, wenn er bei einem zeitgenössischen Werk zum Interpreten wird?

Thomas Larcher: Für mich ist das die intensivste Möglichkeit, in die Welt eines anderen Komponisten einzudringen. Man hat sonst nie die Gelegenheit, sich so genau und ausdauernd mit einem Werk, mit dem Kosmos eines anderen Komponisten, mit seinen Grenzen und seinen Stärken zu beschäftigen, als wenn man das Stück spielt. Sogar als Dirigent ist man noch einen Schritt weiter weg, als wenn man dieses Stück körperlich leben muss. Das finde ich sehr interessant. Und ich habe auch als Komponist schon viel daraus gelernt. Stücke von Neuwirth, Hosokawa oder jetzt von Tüür zur Uraufführung zu bringen – das ist für mich eine faszinierende Tätigkeit.

zitiert nach: Fono Forum, November 2006