Michael Struck-Schloen: Mit Ayrton Senna durch die Cello-Suite

Süddeutsche Zeitung 19.07.2006

Nix wie raus aus der reinen Lehre: Ein Besuch bei dem Komponisten, Pianisten und Festivalerfinder Thomas Larcher

Unterm Kopfhörer stanzt ein offenbar wahnsinniger Pianist blubbernde Klänge in sein präpariertes Klavier, während die betagte Dame Citroen den Weerberg hinaufkeucht: Kehre um Kehre, vorbei an Heustadeln, Almen und schweißsprühenden Radlern. Zweifellos haben die boulevardverliebten Autoingenieure aus Paris solche Höhentouren bei der Erfindung der „Déesse“ nicht vorgesehen. Ein kleiner Trost: der grandiose Blick ins Inntal über Orte mit so klangvollen Namen wie Fritzens oder Vomp. Währenddessen scheint der Pianist im Ohrstöpsel dem Klavierkorpus lustvoll abzuklopfen, wie ein Rumpelstilzchen auf den Saiten herumzutrampeln, schließlich rücklings wie Gregor Samsa in der Bassregion herumzustrampeln.

Auf 1300 Höhenmetern sind Stück und Fahrt vorbei. Thomas Larcher, der Komponist und Klaviervirtuose, lädt in sein exzeptionelles Heim am Hang, das mit Sichtbeton, Glasflächen und Blechdach die autochthonen Holzhäuser der Umgebung snobistisch ignoriert. „Ein Haus wie der Auftakt zu Beethovens Fünfter“ jubilierte das Magazin Spectrum über den 1996 gebauten, preisgekrönten Bau. „Drei quer liegende Raumschichten durchstößt der Blick nach dem Eintreten, um dann durch ein wandgroßes Fenster über das Tal zu gleiten. Zugleich ist das Innere eine Art reziproke Bühne: Die Landschaft blickt von vorn in das Haus hinein.“ Dem ist nichts hinzuzufügen – außer dass sich Thomas Larcher weniger Beethoven als Schubert verpflichtet fühlt. „Schuberts Musik fasziniert durch ihre existenziellen Momente. Er zeigt sich uns viel nackter und ungeschützter, weniger formalistisch als Beethoven.“

Existenzielle Entblößungen in Schuberts Sinn hat auch Larcher in seiner Musik nie gescheut. Schubertsche Sehnsuchtsklänge in wohliger Tonalität stehen neben den Spieluhrklängen des präparierten Klaviers in seinem Stück „Smart Dust“, von dem schon die Rede war. Rhythmische Impulse à la Bartòk tauchen auf neben albtraumhaften Anforderungen an extreme Lagen und Ausdrucksbereiche wie in seinem zweiten Streichquartett „Ixxu“. So schafft Larcher seine eigene „Musica impura“, die wenig mit Avantgarde und viel mit gespeicherten Erfahrungen zu tun hat. „Für mich ist Komponieren eigentlich mehr ein Graben nach hinten als ein Entwerfen von Utopien nach vorn – mehr ein Suchen und Erinnern in mir selbst.“ Wobei er durchaus mediale Eindrücke aus dem aktuellen Weltgeschehen einbezieht: den Unfalltod des Rennfahrers Ayrton Senna, den das Cellostück „Vier Seiten“ reflektiert, oder ein Interview mit dem Fotografen Jean-Marc Bouju über seinen „Einsatz“ im Irak-Krieg, das Larcher in sein Cellokonzert „Hier, heute“ von 2005 montiert hat. Mit diesem kalkuliertem Aufbrechen der Kunstebene geht Larcher hohe Risiken ein – bis hin zum Vorwurf der Geschmacklosigkeit und Indezenz. Ihm aber dient das Wagnis dazu, dem „selbstverliebten Kreisen der Neuen Musik um sich selbst“ zu entgehen.

In der klassischen Personalunion von Komponist und Klavierspieler ist Larcher ohnehin ein Phänomen in der arbeitsteiligen Musikszene von heute. An der Wiener Musikhochschule, die er als „total sprach- und kommunikationsloses Ungetüm“ erlebte, studierte der 1963 geborene Innsbrucker Klavier bei Elisabeth Leonskaja und Kompositionen beim österreichischen Altmeister Erich Urbanner. Damals interessierte ihn eher die Tastenliteratur: erst die geliebten Klassiker, dann immer intensiver die Musik seiner Zeitgenossen. Für sie wollte er sich als Mittler ins Zeug legen. Für sie hat er 1993 im Tiroler Städtchen Schwaz ein Forum gegründet, das sich schnell zum Vorzeige-Festival für Neue Musik mauserte: die „Klangspuren“. „Die Idee des Festivals war der Stilpluralismus. Ich wollte keine reine Lehre, sondern eine Plattform schaffen für Leute wie Olga Neuwirth oder Johannes Maria Staud, das war für mich angewandte Politik. Ich wollte, dass diese Musik verankert wird in diesem Ort, dass die Leute darüber reden und einen Fetzen von Welt erhaschen. Das wurde dann fast zum Selbstläufer. Als ich die ,Klangspuren‘ vor fünf Jahren aufgab, gab es 23 Konzerte mit dem besten Ensembles für Neue Musik.“

Als Komponist hielt sich Larcher in Schwaz stets bedeckt. Doch auch als Pianist lernte er viel über die andere musikalische Seele in seiner Brust. „Wenn man als Musiker auf der Bühne andere Werke rüberbringen muss, bekommt man ein untrügliches Gefühl für Timing, Spannungsfäden, für die Psychologie des Zuhörens. Ich spreche von der klassischen Konzertsituation, für die ich letztlich auch die meisten Werke komponiere.“ Seit Larcher die zeitraubende Festivalorganisation darangegeben hat, sprudelt es aus ihm heraus. Drei bis vier Werke entstehen jährlich, an prominenten Auftraggebern herrscht kein Mangel. Das Klavierstück „Smart Dust“ hat er als Keimzelle für ein ausgewachsenes Klavierkonzert genutzt, das im Auftrag des Klavierfestival Ruhr entstand uns am heutigen Mittwoch vom Komponisten zusammen mit Konzerten von Haydn und Mozart in Essen uraufgeführt wird. Daneben produziert Larcher weiter CDs mit dem gleichgesinnten Cellisten Thomas Demenga, mit denen er selbst in den Untiefen der Konzertzugabe noch aufregender Entdeckungen macht (wie auf der jüngst bei ECM erschienenen CD „Chonguri“). Ein Mirakel, wie er all die Aktivitäten und Ideen unter einen Hut bringt.

Am Abend besuchen wir noch den legendären Club „Eremitage“ in Schwaz, in dem neben dem Jazzer Werner Pirchner all die schrägen Tiroler Vögel und Originalgenies aufgetreten sind, die Thomas Larchers Leben und Kunst so nachhaltig beeinflusst haben. Und da wird plötzlich klar, dass weit weg von Wien eine ganz andere, eigenwillige Kunst blüht.

zitiert nach: Süddeutsche Zeitung, 19. Juli 2006